Im Sommer 2019 legt Theresa Mai mit dem Slogan „Wir gründen ein Dorf“ den Grundstein für die Dorfschmiede. Diese neue Genossenschaft „für lebendige Lebensräume“, so lautet der Werbespruch, „dient als Plattform, um ein lebendiges Miteinander, Selbstbestimmung und Verbundenheit im Dorf zu ermöglichen“. So bewirbt es die eigene Website und sorgt in den darauffolgenden Monaten und mittlerweile Jahren dafür, dass immer mehr Menschen den Sprung wagen und die Stadt verlassen, um ans Ende des Piesting-Tals ziehen.
Die neue Wahlheimat liegt umringt von Wäldern und Weiden, etwa 90 Autominuten entfernt von Wien und dank direkter Zuganbindung eine Stunde entfernt von Wiener Neustadt. „Wobei es das Dorf ja schon gibt“, betont eine alleinerziehende Mutter, die auch ihre Großmutter aus Wien mitgenommen hat, „also es wird ja jetzt nicht gegründet. Aber das hat mich genau da abgeholt, wo ich immer hinwollte. Oder was ich auch kenne eigentlich, von diesen Wildnis Camps, in einer Gemeinschaft zu leben ... und sozusagen ein Stammesleben, oder ein Dorfleben zu haben, ja“. Von fiktiven Ländlichkeiten (Nell & Weiland 2014), bzw. imaginierten Gemeinschaften (Anderson 1983) ist in der Fachliteratur die Rede. Sie böten „Erfahrungsräume und stellen als soziale Labore dringend benötigte Möglichkeiten gesellschaftlicher Orientierung und Wertsetzung zur Verfügung“ (Fenske & Hemme 2015). |
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“What draw men together“, beschreibt Émile Durkheim die Voraussetzungen für eine Gemeinschaft, „are mechanical forces and instinctive forces such as the affinity of blood, attachment to the same soil, the cult of their ancestors, a commonality of habits, etc. It is only when the group has been formed on these bases that cooperation becomes organized.” (Durkheim & Simpson 1964). „Der eine will `nen Haus bauen, der andere will irgendwie Möbel bauen, jemand anderes will ne Familie aufbauen. Wenn man Schöpferisches macht, erfüllt es einen und wenn man in `ner Gemeinschaft ist, hat man da ganz viel Potential schöpferisch zu sein“, erklärt im Interview einer der frisch Hinzugezogenen.
Welche Beweggründe also führen die neuen Bewohnerinnen Gutensteins für ihren Umzug aufs Land an und inwiefern glückt der Versuch zur Integration im neuen Lebensraum? Dieser Leitfrage folgte eine ethnografische Dokumentation des Dorfes mit seinen alten und jungen Bewohnerinnen. Exemplarisch sollen die erhobenen Daten neben den persönlichen Absichten und Träumen der Zugezogenen ebenso die Konstruktion ihrer Gemeinschaft analysieren. Wie wird das soziale Leben verhandelt, wie Erwartungen vermittelt und welches Sinnverständnis der Beteiligten lässt sich der emischen Forschungsperspektive abgewinnen? Das bestehende Dorf Gutenstein hat eine lange und sehr prominente Historie als eines der so genannten Sommerfrische-Dörfer, die zur Kaiserzeit als Erholungsort der Wiener Oberschicht dienten und von aller Art Prominenz frequentiert wurden. Geistige Urbanität ist hier also historisch gesehen kein Fremdwort, womit Gutenstein als Forschungsobjekt eine kleine Nische bedient: Nämlich die rurale Neubelebung eines aussterbenden Dorfes weitab der urbanen Ballungszentren mit der Besonderheit, dass eben dieser ‚fremde‘ Zuzug im Grunde einer mehr als hundert Jahre alten Tradition folgt. |
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Mit dieser Arbeit soll neben der audiovisuellen Dokumentation vom DorfLeben ein Einblick in den (Wieder-)Aufbau ländlichen Lebens eröffnet werden. In welcher Beziehung stehen Arbeit, (öffentlicher) Raum und Familienleben der Informantinnen zueinander und wie verstehen sie die Begriffe „Identität“ und „Heimat“ in Bezug auf die Gesellschaft, aus der sie kamen und dem Ort ihres neuen Zuhauses. Es geht „um das Gefühl, dass man verbunden ist. Mit seinem Platz, mit seiner Familie, mit den Menschen die einen umgeben. Mit der Landschaft, ja und da geht’s um eine andere Tiefe. Das kann man nicht in einem Buch lesen“. Aber vor allem zeugt die Arbeit davon - dem demografischen Wandel zur Verstädterung zum Trotz - dass es augenscheinlich immer mehr Idealistinnen gibt, die an die Sinnhaftigkeit dieses geteilten Gesellschaftsgefühls glauben (Amit 2002) und bereit sind, mitsamt ihren Familien den Lebens(t)raum Dorf neu zu definieren.
Der Film vom DorfLeben (2021) ist eine Produktion des Instituts für Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie (Curriculum Visuelle Anthropologie) der Georg-August-Universität Göttingen unter der Leitung von Dr. Frauke Paech und Dr. Torsten Näser. Österreich, Deutschland 2021, 36 Min. |